Genau als ich diese Zeilen schreibe, haben wir nach 8 Tagen auf See die Hälfte unseres Weges von Kap Verde zur Karibik geschafft. Hinter uns liegen genau wie vor uns rund 1.080 sm blauer Atlantik. Noch näher zum Land wäre es übrigens nach French Guyana oder Brasilien, was nur etwa 800 sm entfernt ist, aber dazu müsste man evtl. durch die Kalmen, die äquatornahen, großen Flautenzonen, für Schiffe, die unter Segeln fahren möchten, nicht ganz einfach.
Seit 4 Tagen haben wir kein Schiff mehr gesehen, nur auf dem AIS begleitete uns in 20 – 30 sm Abstand eine Zeit lang ein Segelschiff, das nach Barbados fuhr. Einmal ist ein Brett vorbei geschwommen, eine kleine, hübsche Segelqualle und jeden Tag sehen wir Fliegende Fische. Ach ja, da war noch ein kleiner, schwalbenähnlicher Seevogel, den wir jeden Tag sahen. Ansonsten sind wir umgeben von facettenreichem, blauen Ozeanwasser. Hier ist es ca. 5.000 m tief und gestern sind wir genau über einen 2.000 m hohen Berg gesegelt. Ich möchte manchmal gerne wissen, was alles unter der Wasseroberfläche im Meer lebt. Die Fliegenden Fische müssen ja auch von etwas leben. Sicherlich ziehen auch Wale auf ihren Wanderungen durch diese Gewässer. Die Tiefsee soll ja voller Leben sein. Jeden Abend fahren wir auf unserem Weg nach Westen in die untergehende Sonne erleben wunderschöne Farbspiele von Wolken, Himmel und Wellen.
So weit von jedem anderen menschlichen Wesen und menschlicher Siedlung entfernt zu sein, ist schon ein besonderes Gefühl. Wir haben ja alles dabei, was wir brauchen, auch für den Ausfall von lebensnotwendiger Technik haben wir immer noch ein backup, noch eine Absicherung. Trotzdem, wir sind auf uns gestellt. Wir können nicht mal eben ein paar Informationen aus dem Internet holen. Eine kleine Wunde an meiner rechten Hand begann zu eitern. Was, wenn das größer wird? Es zählt nur noch das, was wir selbst an Wissen haben oder in einem Buch oder einer Datei nachlesen können, die wir mitgenommen haben. Es zählt nur noch das, was wir an Bord haben. Darüber hinaus heißt es, dass jeder Mensch alles Wissen und alle Weisheit in sich trägt. Getreu dem Motto unserer Reise „In der Tiefe der Stille könnt ihr meine Stimme hören“ bin ich bestrebt, fernab vom Internet Antworten zu finden. Die Schönheit und die Reinheit der Natur um uns herum helfen mir, die Tätigkeit der Gedanken zur Ruhe zu bringen und zu lauschen.
Uns ist der Wind bisher wohlgesonnen. Seit Tagen schiebt uns der Passat mit angenehmen 5 Bft ziemlich genau von Osten nach Westen. Zwischendurch gibt es immer wieder Böen von 23 bis zu 28 kn, also Windstärke 6. Diese „Böen“ halten dann gerne auch mal eine Viertelstunde an oder wie gestern einen ganzen Tag. Entgegen allem, was wir vorher gelesen und durchdacht hatten, segeln wir einfach nur mit der Genua, die wir ausgebaumt auf Backbord fahren. Gestern mussten wir die Genua reffen und haben das zum ersten mal mit dem gesetzten Genuabaum gemacht. Das An- und Abbauen des Baumes ist bei diesem Seegang hier draußen immer ein erheblicher Aufwand, wobei Frank auf das Vordeck muss und mit dem schweren Baum manövrieren. Ich war sehr erleichtert, dass das Reffen möglich ist, ohne den Baum abzubauen. Jetzt weiß ich auch, dass ich alleine das Vorsegel reffen oder fast ganz einrollen kann, wenn uns ein Gewittersturm („Squall“) überrascht.
Meistens segeln wir einen Schnitt von 5 bis 6 kn.
Was wesentlich anstrengender ist als der Wind, sind die Wellen. Es sind schöne lange Atlantikwellen aus der Windrichtung, also von hinten, aber oft kommt dazu eine mehr nördliche Dünung, so dass Kreuzseen entstehen. Die SAI MANGALAM rollt, schaukelt, schleudert und mit ihr alles was an Bord ist. Es gibt keinen Ort auf dem ganzen Schiff, wo man einfach mal sitzen oder liegen könnte, ohne permanent die Schiffsbewegungen auszugleichen und abzufangen, um nicht zu fallen. Selbst nachts im Bett wird man unaufhörlich von Backbord nach Steuerbord geworfen und zurück. Wir haben jetzt aber doch einen Platz gefunden: Wir setzen uns im Cockpit auf den Boden, quer zur Hauptschaukelrichtung, mit dem Rücken an der einen Bank und den Beinen auf der gegenüberliegenden. So kann man eine Weile einfach nur sitzen und muss nur noch sein Essen oder jeweiligen Getränke beaufsichtigen. An dieser Stelle möchte ich eine Ergänzung machen zu Franks Gedanken über das Prinzip „Tisch“. Das Vertrackte ist ja nicht nur, dass nichts liegen bleibt, sondern insbesondere, dass es erst so scheint, als ob es liegen bleibt. Legt man eine Schüssel, einen Löffel oder ein Buch an eine Stelle, die man erst einmal für sicher hält, z.B. auf eine Antirutschmatte (diese Matten sind einfach genial, richtig klasse!), dann bleibt es zunächst einmal liegen. Dann nach ein paar Sekunden oder auch Minuten kommt plötzlich Leben in die Angelegenheit und das Ding rutscht, kippt oder fliegt einfach los. Vorgestern beim Frühstück ist eine volle (natürlich!) Kaffeetasse samt Kaffeekanne plötzlich gekippt, nachdem sie 40 Minuten brav an ihrem Platz gestanden hatte. Besonders beim Kochen liegen meine Nerven manchmal blank, weil ich jedes Teil, was ich benutze, sichern muss und trotzdem immer noch etwas rutscht und sich bewegt. Außerdem muss ich mich selber gut festhalten und habe deshalb meist nur eine Hand frei. Der Gasherd selbst ist kardanisch aufgehängt, vorne hat er eine Kante und zusätzlich wird jeder Topf mit zwei Klammern festgeklemmt. Die heißen Töpfe schwanken also immer bedrohlich, aber eigentlich ist das der sicherste Ort vom ganzen Schiff. Gestern morgen ist mir allerdings ein frisch gebackenes Brot in der Glasbackform aus dem Ofen herausgeschossen und auf dem Fußboden bis in die Naviecke gerutscht, weil ich die Backofentür zum Abkühlen ein bisschen geöffnet hatte. Aber wir werden immer gewiefter, um die Dinge an ihrem Platz zu halten.
Alle ein bis zwei Tage kontrolliere ich alle frischen Lebensmittel, ob sie noch gut sind. Bisher musste ich nur eine Apfelsine und einige Zwiebeln, die insgesamt nicht so gut waren, über Bord werfen. Paprikas, Zucchini, Möhren und Birnen haben wir inzwischen schon aufgegessen. Was insgesamt sehr gut hält und nach wie vor frisch und knackig blieb, sind Kürbis, Bataten, Wassermelone, Weißkohl, Gurken, grüne Äpfel und Apfelsinen. Die Kartoffeln keimen, sind sonst aber o.k. Alle Tomaten sind inzwischen auch rot und werden in den nächsten Tagen verzehrt werden, vorzugsweise mit Olivenöl oder Mayo auf dem Brot. Leider nicht so toll haben sich unsere Bananen entwickelt. Sogar die noch ziemlich grün gebunkerten Bananen sind inzwischen überreif, um nicht zu sagen fast schon faul. Seit Tagen gibt es Bananen in jeder Variation und man ist erstaunt, wie gut das oft schmeckt. Z.B. gestern Abend aßen wir ein Curry aus Bataten, Kartoffeln, Kichererbsen, Zwiebeln, Datteln und Bananen, echt lecker. Leider werden wir wohl doch noch die letzten faulen Bananen dem Meer übergeben müssen, es ist einfach nicht zu schaffen.
So verleben wir eine ruhige und auch einigermaßen entspannte Zeit. Ich bin sogar dazu gekommen, zu lesen, mache — festgeklemmt zwischen Sitzbank und Tisch — Yoga und habe schon einige Male die Gitarre aus der Backbord-Vorratskabine geholt und ein bisschen gesungen. Frank ist nicht ganz so entspannt, weil er, wie eine Mutter immer ein Ohr bei ihrem Kind hat, sogar im Schlaf immer hört, ob der Wind zugenommen hat oder ob die SAI MANGALAM noch schnell genug fährt.
Liebe Abenteurer auf dem Weltmeer,
Manfred und ich sitzen gemütlich essend beim Italiener und verfolgen gebannt eure Überfahrt. Immer wenn ich Manfred besuche, schauen wir nach neuen Bildern und Schilderungen. Manfred denkt dann an seine eigenen Segelabenteuer in der Karibik.
Vielen Dank für die tollen Erzählungen! Wir wünschen euch weiter eine entspannte Überfahrt. Kommt glücklich an Land an!
Grüße von Manfred und Doris
Selten eine so detaillierte Überlebensschilderung gelesen, Helga.
Is ja wirklich ne Sondersituation: in soner Nussschale, über Dir nix, unter Dir 5km oder mehr…und in der Horizontalen unendliche Weiten.
Und dass das eine solche Schaukelparty ist , hätte ich auch nicht gedacht.
Um nicht in Panik und Hysterie zu verfallen , musst Du schon eine starke Seele, starke Nerven und robusten Körper besitzen und geradezu angstfrei sein.Das Gröbste habt Ihr jetzt hinter Euch, auch genug Übung. Land ist so zu sagen in Sicht. Ich denke Ihr sehnt Euch auch danach, wieder mal Boden unter den Füßen zu
haben, zu bilanzieren und auf die eigenen Schultern klopfen.
Machts weiter so gut! Euer Dietrich.
Meinen Rückflug habe ich für den 08.02, von San Juan, Puerto Rico, gebucht. Nach dort kommt man von allen Inseln recht leicht.
Sai Ram, Ihr Lieben!
Wie schön von Euch zu hören und so ein wenig an Eurem Abenteuer teilhaben zu können! Es klingt wirklich absolut besonders, großartig, ‘awsome’, wie Ihr so fernab von jeglichem Land auf dem grenzenlosen Ozean unterwegs seid, in der Weite und Stille der Natur! Die von Dir so eindringlich geschilderte Erfahrung der ständigen Bewegung des Bootes, Helga, erinnert mich an meine einzige, in starkem Schwell verbrachte und für mich schwer erträgliche Nacht vor Anker an der Costa Brava — nichts gegen das, was Ihr über Tage erlebt! Aber schön, dass Ihr voran kommt, und auf der Karte scheint Ihr jetzt schon näher am Ziel als vom Startpunkt entfernt! :-))
Was Deine kleine eiternde Wunde an der betrifft, so dachte ich, dass Du doch sicher passende Globuli dabei hast, die helfen könnten (Frank erzählte mal, dass Du ihm vor Jahren mit einem passenden Mittel bei etwas vielleicht Vergleichbarem helfen konntest.) — oder dass das Gayatri seine Heilkraft entfaltet. Gute Besserung jedenfalls!
Ich wünsche Euch weiter eine gute und inspirierte Zeit auf Eurem begrenzten und sich bewegenden Lebensraum und geschwindes und glattes Vorankommen! Bald werdet Ihr seid da sein!!!
Alles Liebe, Dagmar