Bereits im Mittelalter kamen irische Pilger auf dem See- und Landweg, um das Grab des Apostels Jakobus zu besuchen und auch die Gebeine des heiligen Jakobus selbst sollen, so eine Legende, mit einem Schiff ohne Besatzung in Galicien angelandet sein, bevor sie am Ort des heutigen Santiago de Compostela beigesetzt wurden. Mit Portosin wählten wir einen Hafen, der die größtmögliche Nähe zu Santiago hat, um den restlichen rund 50km zu Fuß zu gehen. Da der offizielle Camino zu einem großen Teil über Landstraßen führt, aktivierten wir komoot (eine App, die einem an jedem Ort schöne Wanderwege zusammen stellt) und starteten am Freitagmorgen (das war der 6. September) auf unseren persönlichen Camino do Mar. Wir verließen Portosin direkt nach Sonnenaufgang, der um kurz nach acht war, erklommen mit dem ersten Hügel bereits 200 der insgesamt 1.350 Höhenmeter, um in Noia, wieder auf Meereshöhe, ein knuspriges, frisches Brot aus der Panaderia zu frühstücken. Von Noia an folgte der Weg einem verwunschenen Bachlauf, mit zwei schönen Wasserfällen. Einmal verloren wir den Weg und mussten uns am abschüssigen Hang durch dichtes Grün schlagen, während unsere komoot-Lisa (anscheinend nennen wir alle unsere hilfreichen Engel “Lisa”) freundlich aber bestimmt verlauten ließ: “Wirf einen Blick in die Karte!”. Aber im Allgemeinen hat Lisa zuverlässig wirklich schöne Wege gefunden und die Hauptstraße vermieden. Meist ging es durch Eukalyptus- und Pinienwälder, immer bergan, bis hinauf auf die höchste Erhebung unseres Weges von fast 500m. Die Eukalyptusbäume mit ihren grauen Blättern und den nackten Stämmen erinnerten mich an die Blue Mountains westlich von Sydney. Tatsächlich hatte ein Missionar aus Australien Mitte des 19. Jahrhunderts einige Samenkörner des Eukalyptusbaumes an seine Familie nach Galicien geschickt. Die ausgedehnten Eukalyptusmonokulturen sind heute das Ergebnis einer politisch gewollten Aufforstung in Galicien und inzwischen sehr umstritten, da der Eukalyptusbaum anderen Pflanzenarten das Wasser abgräbt und ihr Wachstum unterdrückt. Außerdem brennt das trockene, an ätherischen Ölen reiche Laub, bei Waldbränden wie Zunder. Wir wanderten nahezu den ganzen Tag im angenehmen Schatten des Waldes, nur oben auf dem Rücken des Hügels bestimmten pinkfarbene Ericagewächse und gelber Stechginster das Landschaftsbild und die spanischen Sonne brannte auf uns hernieder. Beim Abstieg auf der anderen Seite des Hügels dachten wir so langsam an eine schöne Herberge, ein kühles Estrella Galicia und eine Portion Pimiento de Padrón. Aber bisher war uns weder ein anderer Wanderer begegnet, noch dass wir irgendeine Art von Unterkunft erblickt hätten. Kein Wunder, Lisa führte uns halt immer schön außen rum. Nach zwanzig Kilometern wurden die Füße schwerer und der Appetit größer. Nach 25km saßen wir erschöpft am Straßenrand und suchten mit maps.me eine Unterkunft. Unterwegs hatten wir uns zum Glück noch mit dicken, süßen Brombeeren satt gegessen, so dass wir auch die letzten weiteren fünf Kilometer bis zum Hotel “Camino do Mar” (das muss ja das richtige sein!) noch irgendwie schafften.
Warum macht man überhaupt eine Pilgerreise? In der “Compostela” wird bescheinigt, das der Peregrino “aus frommer Neigung oder zur Erfüllung eines Gelübdes … dieses hoch ehrwürdige Gotteshaus aus Frömmigkeit ehrerbietig besucht” hat. Nach meiner Überzeugung ist Gott an jedem Ort präsent, insbesondere auch im Herzen eines jeden Menschen. Daher brauche ich nicht irgendwo hin zu gehen, um eine größere Nähe zu meinem eigenen inneren Wesen zu haben. Andererseits gibt es Orte, die sich friedvoller und erhabener anfühlen als andere. An diesen Orten fällt es auch oft leichter, die Bilder der Welt (Maya) außen vor zu lassen und in den tiefen Frieden der Meditation einzutauchen. Alleine schon viele aus tiefstem Herzen gesprochene Gebete können über die Jahre einen Ort heiligen. Mit Santiago de Compostela ist es so eine Sache. Es gibt ja keinen ernsthaften Hinweis, dass die Gebeine des Jakobus tatsächlich hier beigesetzt wurden, was mich persönlich nicht stört. Trotzdem scheint doch ein gewisser Segen auf diesem Ort zu liegen, denn Jahrhundert für Jahrhundert zieht das mutmaßliche Grab des Apostels Pilger an. Daher wollte ich gerne wissen, wie dieser weltberühmte Pilgerort sich anfühlt und auch ein persönliches Ansinnen mit mir tragen. Die Strapazen des Fußmarsches würden mir helfen, auf mein inneres und äußeres Ziel ausgerichtet zu bleiben. Tapas ist ja nicht nur eine kleine, spanische Schnagerei, sondern bedeutet im Sanskrit geradezu das Gegenteil, nämlich Askese und Selbstbeherrschung, die Ausübung geistiger und physischer Disziplin, um eine bestimmtes Ziel erreichen zu können.
Mit eben dieser Disziplin rafften wir uns am nächsten Morgen wieder auf, um den Weg nach Santiago fort zu setzten. Nach einem galicischen Frühstück, bestehen aus superknusprigem Weißbrot mit Marmelade (auf die Butter haben wir verzichtet), frisch gepresstem Orangensaft und einem Café negro ging es erst einmal erstaunlich gut los. Doch am zweiten Tag reichte eine Mittags-Siesta nicht mehr aus, die Wanderabschnitte wurden kürzer und die Erholungspausen länger. Als wir die Vororte von Santiago erreichten, wollte Lisa uns wieder hübsch außen rum zur Kathedrale führen. Wir schalteten sie kurzerhand aus, was sie nicht übelnahm und freundlich fragte, wie uns die Tour gefallen habe und navigierten mit maps.me auf direktem Weg zur Kathedrale, einem einzigen, langen Anstieg entlang der Straße. Etwa einen Kilometer vor dem Ziel konnten wir der Aussicht auf eine warme Dusche und ein frisch bezogenes Bett nicht mehr widerstehen und ruhten im anvisierten Hotel erst einmal eine Stunde aus. Die Füße waren zwar noch wund und die Beine seltsam hölzern, aber es ging danach schon wieder etwas besser weiter. Bis hier her hatten wir auf den ganzen 51km keinen einzigen Pilger, kein Hinweisschild auf den Jakobsweg oder die Kathedrale und keine einzige Pilgermuschel gesehen (mit Ausnahme unseres Hotels in der ersten Nacht). Nun mittendrin in der Altstadt von Santiago gab es von allem reichlich. Vor allem war die Stadt voll von Touristen, voll von Souvenirläden mit Jakobsmuscheln als Schmuck und auf T‑Shirts und voll von Menschen mit derben Schuhe, die offensichtlich mehr oder weniger weit gelaufen waren. Mit Glück schlüpften wir durch die Sicherheitskontrollen direkt hinein in die Kathedrale. Leider war die ganze Kathedrale eine riesige Baustelle, der allergrößte Teil war mit Plastikfolien verhängt, so dass man den Prunk und die Pracht nur erahnen konnte. Noch einmal vorbei an den Aufsehern besuchten wir den silbernen Sarkophag im Keller und bestaunten die lange Schlange von Menschen die die Statue des Heiligen “umarmen” wollten.
Wieder draußen, leuchtete die die Westfront der Kathedrale im Abendsonnenschein und wir ließen uns gegenüber an einer Säule nieder, um den Anblick zu genießen. Ein buntes Treiben herrschte auf dem Plaza del Obradoiro vor der Kathedrale: Eine Gruppe Fahrradfahrer, die die gemeinsame Ankunft feierte, viele Wanderer mit Trekkingschuhen und Rucksäcken, einige euphorisch, andere still und darüber hinaus jede Menge Touristen. Wie weit jeder von ihnen wirklich gelaufen war, ist schwer zu sagen, aber einige sahen genau so fertig aus wie wir. Am nächsten Tag, auf dem Weg zum Busbahnhof, sahen wir leuchtende Gesichter bei den Pilgern, die Santiago erreichten und nur noch wenige hundert Meter bis zur Kathedrale vor sich hatten. Ob sie alle aus “aus frommer Neigung oder zur Erfüllung eines Gelübdes” kamen, kann ich nicht beurteilen. Mir selbst waren die vielen Touristen zu viel, zu viele Jakobsmuschelsouvenirs und zu viele tote Tintenfische in den Schaufenstern der Restaurants.
Santiago de Compostela hat mein Herz nicht angerührt. Trotzdem war die Pilgerwanderung für mich persönlich lohnend, denn sowohl im Inneren als auch im Äußeren hat sich der Zweck der Reise erfüllt. Um einige Erfahrungen reicher kehrten wir am Sonntag mit dem Bus über Noia nach Portosin zurück.
Liebe Helga, lieber Frank,
danke auch für diese lebendige, differenzierte und sehr anschauliche Schilderung, die mich als Leserin sehr schön mit auf den Weg nimmt, von dem ich immer wieder irgendwie träume. (Im Urlaub erzählte eine Freundin, dass sie schon zweimal allein jeweils ein sehr langes Stück auf dem Weg gewandert sei — sie hat meine volle Bewunderung.) Mir scheint, es geht manchem Pilger vielleicht darum, mit sich selbst und zu sich selbst zu pilgern, und wenn man auf so einem Weg ist, bleibt die alltägliche Welt eher ‘draußen’, abseits und entfernt — so ähnlich verstehe ich auch Dich, Helga. Und einige Orte auf dem Weg haben ja auch offenbar eine stärkere Kraft als ’normale’ weltliche Stätten — so mag manchmal auch was davon durch den Touristenrummel dringen, stelle ich mir vor. Die schönen Photos geben auch einen wunderbaren Eindruck von der Landschaft und Euren Stationen auf dem Weg. Schließlich hast Du die Kathedrale so geschickt aufgenommen, dass gar keine Touristen zu sehen sind 😉 — Stille scheint hier zu herrschen. Sehr schön!
Habt weiter viel Freude in Spanien und auf dem Meer!
Liebe Grüße, Dagmar
Liebe Dagmar,
ja Du hast recht, das Wichtigste an einer Pilgerwanderung ist sicherlich die eigene innere Einstellung. Mit der entsprechenden Ausrichtung kann selbst der Weg zur Arbeit ein Pilgerweg werden. 🙂
Danke und herzliche Grüße nach Essen!
*Helga*